Bei Hanna hat es noch nie 'zoom' gemacht! Am ersten Weihnachtstag läuft im Radio der verheißungsvolle Titel „1.000 Mal berührt“. Bei der Anmoderation klingt ihr Lieblingsmoderator Tobias sehr einsam in seinem Studio. Verzweifelt wartet er auf seinen ersten Anrufer an diesem Morgen. Soll sie dieser Anrufer sein?
Hanna hört die Frühsendung von Tobias seit sie ins sächsische Vogtland gezogen ist. Seine Stimme gehört zum Frühstück wie der Kaffee.
Jetzt am Telefon klingt er ganz anders, doch es gibt eine eigentümliche Vertrautheit auf beiden Seiten. Kann man sich verlieben, ohne sich zu begegnen?
Das halbe Vogtland stellt sich die gleiche Frage, während es Tobias Sendungen und Hannas Anrufen beiwohnt.
Was macht eigentlich ein Radiomoderator an einem Feiertagmorgen? Zeichnen die die Sendungen für diesen Fall nicht auf? – Schon oft hatte Hanna sich das gefragt. Aber heute war die Moderation doch live, oder?
Es war der 1. Weihnachtstag. Hanna saß wieder allein beim Frühstück. Die einzige Gesellschaft bot ihr das Radio. Trotz Weihnachten musste sie heute arbeiten. Sie hatte sowieso keine Familie. Sollten ruhig die Kollegen frei haben, die mit ihren Angehörigen feiern wollten. Eigentlich machte ihr das nichts aus. Hanna hatte sich über viele Jahre daran gewöhnt. Sie sagte sich, Weihnachten besteht auch nur aus ganz normalen Wochentagen und die gehen genauso schnell vorbei wie alle anderen.
Aber es war eben nicht so! Alles war an Weihnachten anders als an normalen Wochentagen. Es wurde ganz still überall. Die Welt schien eine Pause einzulegen und irgendwie ruhiger zu atmen. Sie hätte sich vorstellen können, dass die Erde aufhörte, sich zu drehen. Vielleicht drehte sie sich sogar anders herum? Ob man das wohl merken würde?
Hanna hatte schon immer viel Fantasie gehabt. Nur leider hatte sie niemanden, dem sie ihre verrückten Ideen erzählen konnte. Und so bekam sie auch keine Antwort auf ihre Frage, ob man es merken würde, wenn die Erde sich an Weihnachten andersherum drehte. Früher sprach man von der Zeit „zwischen den Jahren“. In den sogenannten „Rauhnächten“ kamen die Hexen und Geistwesen. Waren das nicht auch Hinweise darauf, dass an diesen Tagen Magisches geschehen konnte?
Der Moderator sprach und ihre Gedanken waren wie weggeblasen. Er kündigte das nächste Lied an: „Last Christmas“. Oh Gott, wie viele Jahre würde das wohl noch gespielt werden? Das war ja uralt. Aus dem letzten Jahrhundert, älter als sie selbst. Bestimmt würde dieses Lied irgendwann in den Weihnachtsliederbüchern der Zukunft stehen – wenn es dann noch Bücher gäbe – und alle, die es sängen, würden es dem Brauchtum zuordnen wie „Alle Jahre wieder“ oder „Jingle bells“. Ja, „Jingle bells“ war der Beweis. Das gehörte heute auch schon zum deutschen Brauchtum und stand in jedem Weihnachtsliederbuch.
Sie blickte versonnen aus dem Fenster in die Dunkelheit, die an diesen Tagen gar nicht weichen wollte. Die Nachbarschaft schlief noch. Bestimmt hatten gestern Abend alle lange gefeiert und Weihnachtslieder gehört. Sie seufzte, als ihr abermals schmerzlich bewusst wurde, was ihr fehlte. An diesen kurzen Tagen, an denen die festliche Beleuchtung die Dunkelheit erhellte, hätte sie sich auch gerne an der Stimmung erfreut und es sich mit ihren Liebsten gemütlich gemacht. Wer wünschte sich das nicht? Aber da war eben niemand. Es gab keine Liebsten, es ging auch ohne. Und sie war ja gar nicht allein. Der Radiomoderator war auch noch da. Was der wohl dachte? Glaubte er, dass ihm jemand zuhörte? Anscheinend nicht, er redet heute so einen Unsinn, dachte Hanna. Man könnte meinen, er schläft noch ein bisschen. Die Sprache kam irgendwie stockend und schien etwas durcheinander, als fehlten ihm die Worte. „Es ist nichts passiert in der Region, alles friedlich, da kann man gut Klaus Lage spielen… tausend Mal ist nichts passiert, dann hat es zoom gemacht…“ lautete die Anmoderation des nächsten uralten Titels: „1.000 Mal berührt“. Aber wenigstens keine Weihnachtsmusik. Das brachte Abwechslung.
Ob der Moderator auch mal an die Zuhörer dachte? Vielleicht glaubte er wirklich, er wäre heute allein und es sei daher egal, was er so von sich gab. Bestimmt fuhr gerade jetzt irgendwo ein einsamer Autofahrer zu seinen Eltern zum Weihnachtsessen und streifte für kurze Zeit das Sendegebiet. Wenn der diese Moderation gehört hatte, fragte er sich bestimmt, wo er gelandet war und fuhr schnell weiter, ehe es ‚zoom‘ machte.
Hanna war trotz aller Bemühungen, sich die Feiertage nicht zu Herzen gehen zu lassen, sehr früh aufgewacht an diesem Morgen. Zur Arbeit musste sie erst um die Mittagszeit, denn sie war zur Spätschicht eingeteilt. Sie würde etwas eher hinfahren, denn dort war sie wenigstens in Gesellschaft. Schließlich waren in diesem Jahr alle Patienten im Krankenhaus, in dem sie als Schwester arbeitete, auch irgendwie alleine. Da konnte sie Trost spenden und wurde gebraucht.
In normalen Jahren war die Klinik an Weihnachten nicht voll von Patienten, sondern von Besuchern. Doch durch diese schreckliche Pandemie gab es schon seit Wochen keine Besucher mehr. Wer jetzt im Krankenhaus lag, war allein und ohne Ablenkung seinem Leiden und seinen Ängsten ausgeliefert. Keiner brachte mehr Blumen auf die Stationen oder Pralinen, Obst und was sonst noch aufheiterte. Die Patientenzimmer waren dadurch ebenfalls nicht die gleichen wie sonst. Die Stimmung war gedrückter, es duftete nicht nach Blumen. Manchmal roch es eher streng, weil die Angehörigen nicht die Wäsche wechselten. Jetzt merkte man, dass Besucher oft eine Unterstützung waren. Sie halfen den Patienten, sich selber zu pflegen, beim Anziehen oder beim Essen. Das fiel jetzt alles weg. Sie als Schwestern hatten ohnehin schon alle Hände voll zu tun und konnten das nicht ausgleichen. Wo wirklich Not am Mann war oder nach Operationen, halfen sie, so gut es ging – auch beim Waschen oder Essen – aber wer irgendwie konnte, musste sich um sich selbst kümmern – auch an Weihnachten.
Wenn sie eher zur Arbeit ging, konnte sie vor dem Dienst wenigstens allen Patienten auf ihrer Station noch ein schönes Weihnachtsfest wünschen. Sie blieb dann beim einen oder anderen ein paar Minuten. Manch einer brauchte ihren Zuspruch, die Versicherung, dass im neuen Jahr alles wieder gut werden würde. Und das wünschte sie jedem von Herzen.
Ob das auch bei ihr so käme? Würde einmal alles gut werden? Sie begrüßte jedes neue Jahr mit Hoffnung. Aber wie lange noch? Sie war jetzt 27 Jahre alt. Die meisten ihrer Freundinnen hatten längst eine Familie. Einige schon die zweite – Patchwork war heute normal. Aber sie hatte noch nicht den richtigen Mann gefunden. Vielleicht war sie zu schüchtern. Eine auffällige Person war sie nun auch nicht gerade. Mittelgroß, mittelhübsch, mitteldünn – Mittelmaß. Warum gab es eigentlich so wenige Mittelmänner? Sie erwartete ja gar nicht, dass sich ein Superheld oder Mr. Vogtland für sie interessierte, aber wo sollte man heute „den Mann“ überhaupt kennenlernen? Auf der Arbeit? Beim Einkaufen? Beim Spazierengehen? Sie ging nicht viel aus und war der Überzeugung, dass man in der Disco oder einer Kneipe sowieso keinem Mr. Right begegnete. Schließlich waren alle ihre Beziehungen, die auf die klassische Weise begonnen hatten, gescheitert. Seit ihrer letzten Beziehung war sie vorsichtiger geworden. Die Trennung war zu schmerzhaft gewesen. Und für sinnlose Schwärmereien war sie einfach schon zu alt. Für sie gab es nur noch eins: Entweder sie traf den Richtigen oder sie blieb lieber allein.
Sie goss sich Kaffee nach. Die Musik machte der Werbung des lokalen Radiosenders: „Wir spielen Musik aus 50 Jahren: 70er, 80er, 90er, 2000er und 2010er“ alle Ehre. Manchmal wurden wirklich alte Schinken gespielt und dann wieder im krassen Wechsel moderner Pop. Gelegentlich gab‘s auch abgefahrene Stücke, die es bestimmt schon zu ihrer Entstehungszeit nicht in die Charts geschafft hatten. Hanna mochte zwar nicht alle gespielten Musikrichtungen, aber jedes nächste Stück war eine echte Überraschung und das gefiel ihr. Die 6:30 Uhr-Nachrichten waren ausgefallen. Sicher hatte der Nachrichtensprecher Urlaub. Sie war also immer noch mit dem Moderator allein.
Bei dem Gedanken musste sie grinsen. Sie kannte die Stimme gut. Seit sie ins Vogtland gezogen war, hörte sie morgens immer diese Radiosendung. Wenn der Moderator einmal vertreten wurde, war es nicht das Gleiche, dann verlief der ganze Tag irgendwie anders. Und wenn er nach seinem Urlaub zurück am Mikrofon war, freute sie sich insgeheim, dass alles wieder seine Ordnung hatte. Und nun waren sie an diesem 1. Weihnachtstag vermutlich die einzigen beiden Menschen im Vogtland, die wach waren. Nur sie lauschte seinen Worten und seiner Musik.
Natürlich war das Quatsch, sie wusste ja, was gerade allein im Krankenhaus los war. Wecken, Blutdruck und Fieber messen, Betten machen, Frühstück, Visite. Bei diesen Gedanken war der Zauber vorbei. Sicher hörten noch Hunderte, wenn nicht Tausende andere einsame Herzen jetzt diese Radioshow. Und als dachte der Moderator das Gleiche wie sie, hörte sie ihn sagen: „Man kommt sich am Weihnachtsmorgen um diese frühe Stunde ganz einsam vor. Wenn es ihnen genauso geht, rufen Sie mich an und erzählen mir, wie ihr Weihnachten aussieht. Telefon 03741-18 18 18 18.“ Hanna fragte sich jedes Mal, wenn solche Aufrufe oder Mit-Mach-Spielchen im Radio kamen, wer da wohl anrief. Es schien Unmengen von Leuten zu geben, die sich die Finger wund wählten, um beim Radiosender durchzukommen.
Nach dem nächsten Lied meldete sich der Moderator nicht. Hanna dachte, er macht gerade den ersten Anrufer klar. Nach zwei weiteren Liedern wiederholte der Moderator seinen Aufruf. Scheinbar hörten heute früh doch nicht so viele Vogtländer Radio. Oder alle anderen wollten, wie sie selbst, nur der Unterhaltung lauschen, nicht aber dazu beitragen. Es dauerte nicht lang, da meldete sich der Moderator abermals. Hanna begann darüber nachzudenken, wie er hieß. Sie hörte ihn fast täglich und jeden Tag wurde mehrfach der Name erwähnt, aber für sie war nur die Stimme wichtig. Den Namen hatte sie sich nie gemerkt. Plötzlich fand sie das komisch. Man hörte so vieles, was einem dennoch entging. Man nahm es einfach nicht auf, weil man sich nicht dafür interessierte. Sie grübelte. Das konnte doch nicht sein. Diese sympathische Stimme suchte langsam dringend die Bestätigung, dass ihr jemand zuhörte und sie, die ihm immer zuhörte, konnte sich nicht einmal an den Namen erinnern. Er begann, ihr leid zu tun. Ein Moderator, der glaubte, nur für sich zu moderieren. Eigentlich könnte er auch heimgehen, wenn so oder so keiner zuhörte und sich niemand an seinen Namen erinnerte. Aber dann wäre Hanna wirklich einsam in ihrer kleinen Küche an Weihnachten, wo draußen noch immer Dunkelheit herrschte. Wenn sie zum Fenster sah, erblickte sie keine weihnachtliche Beleuchtung in den Fenstern der Nachbarn, die schliefen noch und hatten am Vorabend alle Lichter gelöscht. Nein, sie sah ihre Kücheneinrichtung als Spiegelung in den Scheiben - und eine einsame junge, mittelmäßige Frau, die nicht einmal den Namen ihres treuen morgendlichen Begleiters kannte.
Mit der Anmoderation um 7:00 Uhr kam die Erlösung. Jetzt, wo sie den Namen hörte, erinnerte sie sich gleich. Natürlich: Tobias Morgenlicht. Das war doch immer der blöde Spruch nach dem Jingle: „Tobias Morgenlicht bringt Licht in ihren Morgen.“ Ob der wirklich so hieß? Legten sich Radiomoderatoren Künstlernahmen zu? Vielleicht fühlte er sich noch zu Größerem berufen. Aber wenn er so viele Jahre bei einem regionalen Radio arbeitet, stünde die ganz große Karriere wohl nicht mehr an. Bestimmt hatte er Familie und Kinder und war froh, hier überhaupt einen halbwegs sicheren Job zu haben. Viele Vogtländer verließen ihre Heimat, um woanders mehr zu verdienen, wurde ihr immer wieder erklärt. Sie hatte es umgekehrt gemacht.
Hanna hörte den Moderator Tobias Morgenlicht abermals seine Telefonnummer durchsagen. Hatte denn immer noch niemand angerufen? Mein Gott, der Arme! – dachte sie sich. Und wenn ich doch mal anrufe? – Aber was sollte ich ihm sagen? Am Ende fragt er noch, warum ich an Weihnachten allein bin. – Aber das könnte er doch nicht bringen, oder? Schon oft hatte sie gestaunt, wie mancher Talk-Show-Moderator im Fernsehen die Gäste verführte, private Dinge preiszugeben, die jene bestimmt nicht hatten im Fernsehen erzählen wollen. Das waren psychologische Vollprofis, denen so etwas gelang. Ein Radiomoderator war in dieser Hinsicht sicher nicht geschult.
Die Rufnummer war nicht kompliziert gewesen. Plauener Vorwahl und vier Mal die 18, wie sie sich erinnerte. Sollte sie? Sie war zwar allein, aber hatte ihr Radio. Er dagegen war allein und wusste nicht, dass sie ihm zuhörte. Ihr Mitgefühl siegte und sie rief an.
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