Nadine Lorenz

Autorin im Vogtland

Liebe im Vogtland

1.000 Mal gehört 

Liebe übers Radio

Bei Hanna hat es noch nie 'zoom' gemacht! Am ersten Weihnachtstag läuft im Radio der verheißungsvolle Titel „1.000 Mal berührt“. Bei der Anmoderation klingt ihr Lieblingsmoderator Tobias sehr einsam in seinem Studio. Verzweifelt wartet er auf seinen ersten Anrufer an diesem Morgen. Soll sie dieser Anrufer sein?

Endlich vereint

Liebe übers Radio

Wenn man verlobt ist, sollte man bald heiraten, denkt Hanna. Liegt es wirklich am Pech auf dem Bau oder vielmehr an der blonden Baltin, dass immer etwas dazwischen kommt? Als Tobias auf einer ominösen Dienstreise nach Litauen plötzlich verschwindet, wird die Liebe auf eine harte Probe gestellt.

Willkommen daheim

Liebe übers Radio

...kommt bald...

Stand der Bearbeitung:

 

Es kommt eine Zeit, in der sogar ein Kennenlernen unter Pandemiebedingungen kein K.-o.-Kriterium gegen eine Veröffentlichung von Liebesromanen mehr ist. Ich warte.

Hanna hört die Frühsendung von Tobias seit sie ins sächsische Vogtland gezogen ist. Seine Stimme gehört zum Frühstück wie der Kaffee.
Jetzt am Telefon klingt er ganz anders, doch es gibt eine eigentümliche Vertrautheit auf beiden Seiten. Kann man sich verlieben, ohne sich zu begegnen?

Das halbe Vogtland stellt sich die gleiche Frage, während es Tobias Sendungen und Hannas Anrufen beiwohnt.
 

Schon mal reinlesen...

Was macht eigentlich ein Radiomoderator an einem Feiertagmorgen? Zeichnen die die Sendungen für diesen Fall nicht auf? – Schon oft hatte Hanna sich das gefragt. Aber heute war die Moderation doch live, oder?

Es war der 1. Weihnachtstag. Hanna saß wieder allein beim Frühstück. Die einzige Gesellschaft bot ihr das Radio. Trotz Weihnachten musste sie heute arbeiten. Sie hatte sowieso keine Familie. Sollten ruhig die Kollegen frei haben, die mit ihren Angehörigen feiern wollten. Eigentlich machte ihr das nichts aus. Hanna hatte sich über viele Jahre daran gewöhnt. Sie sagte sich, Weihnachten besteht auch nur aus ganz normalen Wochentagen und die gehen genauso schnell vorbei wie alle anderen. 

Aber es war eben nicht so! Alles war an Weihnachten anders als an normalen Wochentagen. Es wurde ganz still überall. Die Welt schien eine Pause einzulegen und irgendwie ruhiger zu atmen. Sie hätte sich vorstellen können, dass die Erde aufhörte, sich zu drehen. Vielleicht drehte sie sich sogar anders herum? Ob man das wohl merken würde?

Hanna hatte schon immer viel Fantasie gehabt. Nur leider hatte sie niemanden, dem sie ihre verrückten Ideen erzählen konnte. Und so bekam sie auch keine Antwort auf ihre Frage, ob man es merken würde, wenn die Erde sich an Weihnachten andersherum drehte. Früher sprach man von der Zeit „zwischen den Jahren“. In den sogenannten „Rauhnächten“ kamen die Hexen und Geistwesen. Waren das nicht auch Hinweise darauf, dass an diesen Tagen Magisches geschehen konnte?

Der Moderator sprach und ihre Gedanken waren wie weggeblasen. Er kündigte das nächste Lied an: „Last Christmas“. Oh Gott, wie viele Jahre würde das wohl noch gespielt werden? Das war ja uralt. Aus dem letzten Jahrhundert, älter als sie selbst. Bestimmt würde dieses Lied irgendwann in den Weihnachtsliederbüchern der Zukunft stehen – wenn es dann noch Bücher gäbe – und alle, die es sängen, würden es dem Brauchtum zuordnen wie „Alle Jahre wieder“ oder „Jingle bells“. Ja, „Jingle bells“ war der Beweis. Das gehörte heute auch schon zum deutschen Brauchtum und stand in jedem Weihnachtsliederbuch. 

Sie blickte versonnen aus dem Fenster in die Dunkelheit, die an diesen Tagen gar nicht weichen wollte. Die Nachbarschaft schlief noch. Bestimmt hatten gestern Abend alle lange gefeiert und Weihnachtslieder gehört. Sie seufzte, als ihr abermals schmerzlich bewusst wurde, was ihr fehlte. An diesen kurzen Tagen, an denen die festliche Beleuchtung die Dunkelheit erhellte, hätte sie sich auch gerne an der Stimmung erfreut und es sich mit ihren Liebsten gemütlich gemacht. Wer wünschte sich das nicht? Aber da war eben niemand. Es gab keine Liebsten, es ging auch ohne. Und sie war ja gar nicht allein. Der Radiomoderator war auch noch da. Was der wohl dachte? Glaubte er, dass ihm jemand zuhörte? Anscheinend nicht, er redet heute so einen Unsinn, dachte Hanna. Man könnte meinen, er schläft noch ein bisschen. Die Sprache kam irgendwie stockend und schien etwas durcheinander, als fehlten ihm die Worte. „Es ist nichts passiert in der Region, alles friedlich, da kann man gut Klaus Lage spielen… tausend Mal ist nichts passiert, dann hat es zoom gemacht…“ lautete die Anmoderation des nächsten uralten Titels: „1.000 Mal berührt“. Aber wenigstens keine Weihnachtsmusik. Das brachte Abwechslung.

Ob der Moderator auch mal an die Zuhörer dachte? Vielleicht glaubte er wirklich, er wäre heute allein und es sei daher egal, was er so von sich gab. Bestimmt fuhr gerade jetzt irgendwo ein einsamer Autofahrer zu seinen Eltern zum Weihnachtsessen und streifte für kurze Zeit das Sendegebiet. Wenn der diese Moderation gehört hatte, fragte er sich bestimmt, wo er gelandet war und fuhr schnell weiter, ehe es ‚zoom‘ machte.

Hanna war trotz aller Bemühungen, sich die Feiertage nicht zu Herzen gehen zu lassen, sehr früh aufgewacht an diesem Morgen. Zur Arbeit musste sie erst um die Mittagszeit, denn sie war zur Spätschicht eingeteilt. Sie würde etwas eher hinfahren, denn dort war sie wenigstens in Gesellschaft. Schließlich waren in diesem Jahr alle Patienten im Krankenhaus, in dem sie als Schwester arbeitete, auch irgendwie alleine. Da konnte sie Trost spenden und wurde gebraucht.

In normalen Jahren war die Klinik an Weihnachten nicht voll von Patienten, sondern von Besuchern. Doch durch diese schreckliche Pandemie gab es schon seit Wochen keine Besucher mehr. Wer jetzt im Krankenhaus lag, war allein und ohne Ablenkung seinem Leiden und seinen Ängsten ausgeliefert. Keiner brachte mehr Blumen auf die Stationen oder Pralinen, Obst und was sonst noch aufheiterte. Die Patientenzimmer waren dadurch ebenfalls nicht die gleichen wie sonst. Die Stimmung war gedrückter, es duftete nicht nach Blumen. Manchmal roch es eher streng, weil die Angehörigen nicht die Wäsche wechselten. Jetzt merkte man, dass Besucher oft eine Unterstützung waren. Sie halfen den Patienten, sich selber zu pflegen, beim Anziehen oder beim Essen. Das fiel jetzt alles weg. Sie als Schwestern hatten ohnehin schon alle Hände voll zu tun und konnten das nicht ausgleichen. Wo wirklich Not am Mann war oder nach Operationen, halfen sie, so gut es ging – auch beim Waschen oder Essen – aber wer irgendwie konnte, musste sich um sich selbst kümmern – auch an Weihnachten.

Wenn sie eher zur Arbeit ging, konnte sie vor dem Dienst wenigstens allen Patienten auf ihrer Station noch ein schönes Weihnachtsfest wünschen. Sie blieb dann beim einen oder anderen ein paar Minuten. Manch einer brauchte ihren Zuspruch, die Versicherung, dass im neuen Jahr alles wieder gut werden würde. Und das wünschte sie jedem von Herzen.

Ob das auch bei ihr so käme? Würde einmal alles gut werden? Sie begrüßte jedes neue Jahr mit Hoffnung. Aber wie lange noch? Sie war jetzt 27 Jahre alt. Die meisten ihrer Freundinnen hatten längst eine Familie. Einige schon die zweite – Patchwork war heute normal. Aber sie hatte noch nicht den richtigen Mann gefunden. Vielleicht war sie zu schüchtern. Eine auffällige Person war sie nun auch nicht gerade. Mittelgroß, mittelhübsch, mitteldünn – Mittelmaß. Warum gab es eigentlich so wenige Mittelmänner? Sie erwartete ja gar nicht, dass sich ein Superheld oder Mr. Vogtland für sie interessierte, aber wo sollte man heute „den Mann“ überhaupt kennenlernen? Auf der Arbeit? Beim Einkaufen? Beim Spazierengehen? Sie ging nicht viel aus und war der Überzeugung, dass man in der Disco oder einer Kneipe sowieso keinem Mr. Right begegnete. Schließlich waren alle ihre Beziehungen, die auf die klassische Weise begonnen hatten, gescheitert. Seit ihrer letzten Beziehung war sie vorsichtiger geworden. Die Trennung war zu schmerzhaft gewesen. Und für sinnlose Schwärmereien war sie einfach schon zu alt. Für sie gab es nur noch eins: Entweder sie traf den Richtigen oder sie blieb lieber allein.

Sie goss sich Kaffee nach. Die Musik machte der Werbung des lokalen Radiosenders: „Wir spielen Musik aus 50 Jahren: 70er, 80er, 90er, 2000er und 2010er“ alle Ehre. Manchmal wurden wirklich alte Schinken gespielt und dann wieder im krassen Wechsel moderner Pop. Gelegentlich gab‘s auch abgefahrene Stücke, die es bestimmt schon zu ihrer Entstehungszeit nicht in die Charts geschafft hatten. Hanna mochte zwar nicht alle gespielten Musikrichtungen, aber jedes nächste Stück war eine echte Überraschung und das gefiel ihr. Die 6:30 Uhr-Nachrichten waren ausgefallen. Sicher hatte der Nachrichtensprecher Urlaub. Sie war also immer noch mit dem Moderator allein.

Bei dem Gedanken musste sie grinsen. Sie kannte die Stimme gut. Seit sie ins Vogtland gezogen war, hörte sie morgens immer diese Radiosendung. Wenn der Moderator einmal vertreten wurde, war es nicht das Gleiche, dann verlief der ganze Tag irgendwie anders. Und wenn er nach seinem Urlaub zurück am Mikrofon war, freute sie sich insgeheim, dass alles wieder seine Ordnung hatte. Und nun waren sie an diesem 1. Weihnachtstag vermutlich die einzigen beiden Menschen im Vogtland, die wach waren. Nur sie lauschte seinen Worten und seiner Musik. 

Natürlich war das Quatsch, sie wusste ja, was gerade allein im Krankenhaus los war. Wecken, Blutdruck und Fieber messen, Betten machen, Frühstück, Visite. Bei diesen Gedanken war der Zauber vorbei. Sicher hörten noch Hunderte, wenn nicht Tausende andere einsame Herzen jetzt diese Radioshow. Und als dachte der Moderator das Gleiche wie sie, hörte sie ihn sagen: „Man kommt sich am Weihnachtsmorgen um diese frühe Stunde ganz einsam vor. Wenn es ihnen genauso geht, rufen Sie mich an und erzählen mir, wie ihr Weihnachten aussieht. Telefon 03741-18 18 18 18.“ Hanna fragte sich jedes Mal, wenn solche Aufrufe oder Mit-Mach-Spielchen im Radio kamen, wer da wohl anrief. Es schien Unmengen von Leuten zu geben, die sich die Finger wund wählten, um beim Radiosender durchzukommen.

Nach dem nächsten Lied meldete sich der Moderator nicht. Hanna dachte, er macht gerade den ersten Anrufer klar. Nach zwei weiteren Liedern wiederholte der Moderator seinen Aufruf. Scheinbar hörten heute früh doch nicht so viele Vogtländer Radio. Oder alle anderen wollten, wie sie selbst, nur der Unterhaltung lauschen, nicht aber dazu beitragen. Es dauerte nicht lang, da meldete sich der Moderator abermals. Hanna begann darüber nachzudenken, wie er hieß. Sie hörte ihn fast täglich und jeden Tag wurde mehrfach der Name erwähnt, aber für sie war nur die Stimme wichtig. Den Namen hatte sie sich nie gemerkt. Plötzlich fand sie das komisch. Man hörte so vieles, was einem dennoch entging. Man nahm es einfach nicht auf, weil man sich nicht dafür interessierte. Sie grübelte. Das konnte doch nicht sein. Diese sympathische Stimme suchte langsam dringend die Bestätigung, dass ihr jemand zuhörte und sie, die ihm immer zuhörte, konnte sich nicht einmal an den Namen erinnern. Er begann, ihr leid zu tun. Ein Moderator, der glaubte, nur für sich zu moderieren. Eigentlich könnte er auch heimgehen, wenn so oder so keiner zuhörte und sich niemand an seinen Namen erinnerte. Aber dann wäre Hanna wirklich einsam in ihrer kleinen Küche an Weihnachten, wo draußen noch immer Dunkelheit herrschte. Wenn sie zum Fenster sah, erblickte sie keine weihnachtliche Beleuchtung in den Fenstern der Nachbarn, die schliefen noch und hatten am Vorabend alle Lichter gelöscht. Nein, sie sah ihre Kücheneinrichtung als Spiegelung in den Scheiben - und eine einsame junge, mittelmäßige Frau, die nicht einmal den Namen ihres treuen morgendlichen Begleiters kannte.

Mit der Anmoderation um 7:00 Uhr kam die Erlösung. Jetzt, wo sie den Namen hörte, erinnerte sie sich gleich. Natürlich: Tobias Morgenlicht. Das war doch immer der blöde Spruch nach dem Jingle: „Tobias Morgenlicht bringt Licht in ihren Morgen.“ Ob der wirklich so hieß? Legten sich Radiomoderatoren Künstlernahmen zu? Vielleicht fühlte er sich noch zu Größerem berufen. Aber wenn er so viele Jahre bei einem regionalen Radio arbeitet, stünde die ganz große Karriere wohl nicht mehr an. Bestimmt hatte er Familie und Kinder und war froh, hier überhaupt einen halbwegs sicheren Job zu haben. Viele Vogtländer verließen ihre Heimat, um woanders mehr zu verdienen, wurde ihr immer wieder erklärt. Sie hatte es umgekehrt gemacht.

Hanna hörte den Moderator Tobias Morgenlicht abermals seine Telefonnummer durchsagen. Hatte denn immer noch niemand angerufen? Mein Gott, der Arme! – dachte sie sich. Und wenn ich doch mal anrufe? – Aber was sollte ich ihm sagen? Am Ende fragt er noch, warum ich an Weihnachten allein bin. – Aber das könnte er doch nicht bringen, oder? Schon oft hatte sie gestaunt, wie mancher Talk-Show-Moderator im Fernsehen die Gäste verführte, private Dinge preiszugeben, die jene bestimmt nicht hatten im Fernsehen erzählen wollen. Das waren psychologische Vollprofis, denen so etwas gelang. Ein Radiomoderator war in dieser Hinsicht sicher nicht geschult.

Die Rufnummer war nicht kompliziert gewesen. Plauener Vorwahl und vier Mal die 18, wie sie sich erinnerte. Sollte sie? Sie war zwar allein, aber hatte ihr Radio. Er dagegen war allein und wusste nicht, dass sie ihm zuhörte. Ihr Mitgefühl siegte und sie rief an.

Seit Tobias romantischem Heiratsantrag in seiner Frühsendung im Radio wartet Hanna sehnsüchtig darauf, endlich mit der Hochzeitsplanung zu beginnen. Nur kommen immer weitere ungeplante Hindernisse dazwischen: der selbstgepfuschte Ausbau des Elternhauses, die Radiopartnerschaft zum Sender in Litauen und nicht zuletzt die blonde Lilita, schön wie die Eiskönigin selbst, die Tobias in die Ferne lockt.
Wird ihre Liebe all die Verlockungen überwinden?
 

Schon mal reinlesen...

Hanna hörte den Jingle und sprach den Werbetext mit: „Hier ist die Radiowelle Vogtland. Tobias Morgenlicht bringt Licht in ihren Morgen!“ Schöner konnte ein Morgen nicht beginnen, als mit ihrer Lieblingssendung im Radio. Drei Monate war es nun her, dass ihr der Moderator Tobias den romantischen Heiratsantrag übers Radio gemacht hatte. Bis heute schwebte sie auf Wolke 7 und konnte ihr Glück nicht fassen. Sie hatte ihre große Liebe gefunden, ausgerechnet beim Radiohören.

Dabei hatte es lange nicht danach ausgesehen, als wäre ihr so viel Glück vergönnt. Schließlich war sie keine auffällige Frau, der die Männer nur so nachstiegen. Nein, sie war ganz normal, mit hellbraunem halblangem Haar, einer mittleren Figur und blau-grauen Augen. Sie war keine Diskoqueen und auch sonst eher schüchtern, wenn es um Männer ging. Eine schlechte Erfahrung mit dieser Spezies hatte ihr gereicht, danach war sie vorsichtiger geworden. Wer brauchte es schon, mies behandelt zu werden. Nein, von Testbeziehungen hatte sie genug gehabt und war bereit gewesen, lieber allein zu bleiben, wenn es eben keinen Mister Right gab. 

Doch dann hatte sich das Blatt gewendet. Tobias hatte zu ihr gesprochen, am Weihnachtsmorgen des vorletzten Jahres, mitten in der ersten Coronawelle, als alle besonders mit der Einsamkeit zu kämpfen hatten. Bis heute fühlte sie das Kribbeln in ihrem Bauch, wenn sie daran dachte, wie sie ihn an Neujahr im Studio besucht und in aller Herrgottsfrühe mit ihm die Sendung moderiert hatte, als sie ihn dort zum ersten Mal sah, mit seinen grauen Augen und den schon leicht silbernen Schläfen, den breiten Schultern und dem knackigen… Schon damals hatte sie diesen Gedanken verschämt beiseite geschoben. Aber er war knackig, wie sie heute wusste, es hatte nicht allein an der Jeans gelegen.

Hanna frühstückte und lauschte der warmen, fröhlichen Stimme ihres Liebsten. In Gedanken hing sie ihrem gemeinsamen Wochenende noch ein wenig schwärmerisch nach. Das Wetter war stürmisch und kühl gewesen, und sie hatten die warmen Federn in ihrem Bett kaum zu mehr verlassen, als mit Tobias Labrador Eddi Gassi zu gehen.

Hanna war inzwischen 28 Jahre alt, im Sommer würde sie 29. Sie fand es unglaublich, dass sie dem Ende dieses Lebensjahrzehnts schon so nah war. Es hatte doch eigentlich gerade erst begonnen! Wenigstens hatte sie jetzt einen Mann, der sie bald heiraten wollte. Nur wann?

Auch sie wollte Tobias heiraten, da war sie sich sicher. Bislang gab es nichts, was Hanna an ihrer Entscheidung zweifeln ließ. Oder war das allein nicht schon Grund genug, skeptisch zu werden? Eine Beziehung konnte doch nicht dauerhaft ohne Streit und Meinungsverschiedenheiten bleiben. Das war unrealistisch. Vermutlich fühlte sich Hanna deshalb oft wie im Traum. Die Zeit mit Tobias war zu gut, zu schön, zu harmonisch. Hoffentlich wachte sie nie auf.

Es gab Menschen, die derart ausgeglichen waren, dass sie jedem Streit aus dem Wege gingen. Mit denen konnte man sich gar nicht streiten, aber zu denen zählte Hanna sich nicht. Schließlich hatte sie in ihrer vorhergehenden Beziehung genug Streit geführt – Streit über herumliegende Socken, leer gegessene Kühlschränke, vergessene Einkäufe, schlechte Kochkünste und nicht zuletzt regelmäßig über das Fernsehprogramm und die gemeinsame Freizeitgestaltung.

Im letzten Punkt hatten sie und Tobias bislang nicht viel Gelegenheit für Unstimmigkeiten gehabt. Die Corona-Pandemie hatte die Möglichkeiten so weit eingeschränkt, dass sie froh um alles waren, was sie hatten unternehmen dürfen. Vielleicht steckte in diesem Feld potentieller Zündstoff für die Zukunft. 

Noch ging bei ihnen alles Hand in Hand. Beide sorgten für einander und bemühten sich, das Leben für den jeweils anderen so angenehm und schön, wie möglich, zu gestalten. Allerdings wohnten sie bis heute in getrennten Wohnungen und gestern Abend war ihr das, wie nach jedem schönen gemeinsamen Wochenende, wieder schmerzlich bewusst geworden. Tobias fuhr nach Hause und sie blieb einsam zurück, allein mit ihrer Sehnsucht.

Irgendwie war Alleinsein nie so schwer gewesen wie jetzt. Wenn Tobias fortfuhr und sie ihm nachblickte, mitwollte, aber nicht konnte und anschließend mit schweren Schritten die Treppe zu ihrer Wohnung hochstieg, erschien ihr das Leben sinnlos und kalt. Jedes Mal kostete es sie einige Kraft, sich zusammenzureißen und mit den Aufräumarbeiten ihrer gemeinsamen Hinterlassenschaften zu beginnen. Doch wenn sie später noch einmal mit Tobias telefonierte, um sich gegenseitig eine gute Nacht zu wünschen, war der Schmerz wie weggeblasen.

Zu gern hätten sie das Zusammenleben richtig ausprobiert. Aber da war ja noch die Sache mit dem Haus. Sie sollte dankbar sein, dass Tobias Eltern ihnen ihr Haus überlassen wollten, anstatt sich zu ärgern, dass der Umbau so lange dauerte. Die alten Leutchen wollten sich im Dachgeschoss eine Einliegerwohnung ausbauen und das restliche Haus anschließend räumen. Doch beim Umbau in Tobias Elternhaus gab es immer wieder Schwierigkeiten. Vermutlich wäre es sinnvoll gewesen, von Anfang an einen Planer einzubeziehen. Wegen der finanziell unsicheren Situation und der weiter bestehenden Ungewissheit über Hartmuts berufliche Zukunft, hatten es die beiden allerdings abgelehnt, einen Architekten zu bezahlen. „Schließlich haben wir das Haus früher schon einmal erfolgreich selbst umgebaut!“, hatte Hartmut angeführt. Mit jedem Monat Verzögerung verschob sich für Tobias und Hanna das Zusammenziehen. Inzwischen lebte Tobias weiter in seiner viel zu kleinen ‚Übergangswohnung‘ in Plauen, die er nach seiner Scheidung von Silli bezogen hatte. Und Hanna bewohnte ihre auch nicht viel größere Wohnung in Auerbach. Sie verbrachten ihre gemeinsame Zeit abwechselnd bei ihm und bei ihr. Aber es blieb eben ein Besucherstatus. Zum Arbeiten, putzen, einkaufen und wenn der andere keine Zeit hatte, fuhr man nach Hause und war irgendwie wieder mehr Single als Paar. Und das würde auf absehbare Zeit auch so bleiben.

Zurzeit war nicht nur die Baustelle der Einliegerwohnung ins Stocken geraten. Auch in ihrer Beziehung gab es kein Fortkommen. Selbst die Gespräche über ihre Hochzeit drehten sich im Kreis und kamen zu keinem Ergebnis. Sie steckten fest, wie es weiterging, war in jeder Hinsicht unklar.

Beim Frühstück mit Tobias Frühstückssendung im Radio war Hanna der Grübelei verfallen. Wahrscheinlich lag es am Montag, der ihr die trüben Gedanken einblies. Sie wünschte sich eine Perspektive, Klarheit, einen Termin für ihre Hochzeit oder den Einzug. Das Einzige, was sie heute sah, war der Blick auf eine Woche Spätschicht ohne Tobias.

Eigentlich könnten sie ja schon mal mit der Planung ihres Hausteils beginnen, sich z.B. Gedanken über Raumaufteilung, Böden, Farben etc. machen, dachte sie weiter. Sie müssten irgendwann dahin kommen, alles einmal durchzurechnen, um einen Kredit beantragen zu können. Hanna rang darum, ihre Gemütslage mit festen Vorsätzen zu stabilisieren.

Auf dem Weg zur Arbeit begleitet sie die Erinnerung an ihr letztes Gespräch über die Hochzeit. Es war eher so eine Art Träumerei geworden, in der sie sich in romantischen Details verstiegen hatten. Es hatte nicht einmal Streit über eine eventuelle Gästeliste gegeben. Aber es gab ja auch noch keine. Sie hatten nichts geplant, keine Entscheidungen getroffen, keine Angebote eingeholt und keinen Kassensturz gemacht. Alles unausgeschöpftes Konfliktpotential.

Die Zeit verging. Mittlerweile wurde es Frühling. Ein Viertel des Jahres hatten sie schon tatenlos verstreichen lassen, das war nicht wieder aufzuholen, wie Hanna soeben von Micha unter die Nase gerieben wurde. In dieser Woche teilte sie die Schicht auf der Station Innere 2 am lokalen Krankenhaus wieder mit ihrem Lieblingskollegen. Warum nur hatte sie ausgerechnet ihm von ihren schweren Gedanken des Vormittags erzählt? Micha brachte einen oft zum Lachen, aber wenn er die Chance witterte, sich im Drama anderer zu suhlen, konnte man kaum aufmunternde Worte von ihm erwarten. Und so führte das Pausengespräch jetzt nicht gerade dazu, Hannas Woche zu retten.

Unglücklich schaute Hanna tief in ihren schwarzen Kaffee. Hatte Micha womöglich recht? Lief ihnen die Zeit davon? Wie lange mochte es dauern, eine Hochzeit zu organisieren?

Der Kollege goss fröhlich weiter Öl ins Feuer: „Du hast ja keine Ahnung, wie schwierig es für meine Schwester war, einen Termin beim Standesamt zu kriegen, der zu den wenigen freien Terminen des Saales gepasst hat. Sie wollten ja nicht in irgendeinem Gasthof feiern. Schließlich ist es das Ereignis des Lebens, da muss alles perfekt sein. Und dann hatte der Alleinunterhalter keine Zeit, ihr Mann Lukas wollte aber keinen anderen. Also legten sie den Termin noch einmal um, mussten deshalb aber den Fotografen wechseln, weil der erste zum neuen Termin Urlaub geplant hatte. Mitten in den Schulferien waren auch nur schwer Unterkünfte für die Gäste zu bekommen, nur gut, dass einige abgesagt haben. Und ihr müsst unbedingt zuerst den Termin mit den Trauzeugen absprechen, wenn die nicht können, fangt ihr wieder von vorne an. Was hattet ihr denn gedacht, wann ihr heiraten wollt?“

„Ähm" – erwischt! – „so genau haben wir darüber noch nicht gesprochen“, versuchte Hanna ihrem Kollegen auszuweichen. Oh Gott, was alles berücksichtigt werden musste, dachte Hanna. Ihr wurde ganz flau im Magen. Sie hatte ja gar keine Ahnung gehabt, an was man bei einer Hochzeit alles denken musste. Leider konnte sie niemand bei der Planung beraten, ihre Eltern waren gestorben, als sie 19 war und Geschwister hatte sie keine. Tobias war schon einmal verheiratet gewesen, von seiner Hochzeit hatte er jedoch noch nie ein Sterbenswörtchen erzählt. Warum eigentlich nicht? Blieben Tobias Eltern, Hartmut und Edeltraud, die sie fragen könnten, aber die waren mit ihrem Umbau im Stress. Sein Bruder Johannes hatte noch nicht geheiratet, obwohl dessen Freundin Jana inzwischen einen immer dickeren Babybauch vor sich hertrug. Von Hannas alten Freundinnen im Rheinland hatten schon welche geheiratet, aber durch ihr Beziehungsende mit Nils und ihre anschließende Flucht ins Vogtland war der Kontakt so abgekühlt, dass es ihr nicht behagte, sie mit ihren Problemen zu behelligen.

Ihre Stimmung hatte gerade den Tiefpunkt erreicht, da kam Micha die zündende Idee: sie solle sich mal mit seiner Schwester treffen. Die könne ihr sicher lauter gute Tipps geben. Hoffnungsvoll blickte Hanna ihn an. „Meinst du wirklich, sie hätte etwas Zeit für mich?“

„Aber klar. Wenn Rea über ihre Hochzeit sprechen kann, hat sie immer Zeit. Da werden die Kids bei Freunden geparkt und das Fotoalbum herausgeholt. Darauf musst du allerdings gefasst sein, du wirst dann mit allen Einzelheiten gequält“, lachte Micha.

Hannas Herz wurde leichter. Ein Hoffnungsschimmer. Sie würde Michas Angebot annehmen. Sicher wäre auch Tobias froh, wenn sie die Sache in die Hand nahm. Schließlich hatte er viel um die Ohren, seit er sich für den Hausumbau seiner Eltern mitverantwortlich fühlte. Die Schicht war gerettet. Voller Zuversicht packte Hanna die Arbeit an, als wäre sie allein auf der Station. Dabei waren sie inzwischen trotz Pandemie auch in der Spätschicht wieder regelmäßig zu dritt.

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