Schon mal den Moosmann gesehen? Wäschereichefin Nina auch nicht, doch was liegt da in ihrem Abkühlbecken?
Am Dienstagabend war es wieder spät geworden. Draußen war es längst dunkel und ihr einziger Gedanke: schnell zur Oma, Kind abholen. Nur gut, es gab diesen ‚Oma-Tag‘, sonst hätte sie bereits vor über zwei Stunden im Kindergarten sein müssen. Dienstags holte Oma Else ihren Enkel für gewöhnlich als Mittagskind aus der Mäusegruppe ab. Spät dran war Nina trotzdem. Vor über einer Stunde hatte sie mit ihrer Schwiegermutter telefoniert, weil sie an diesem Abend einfach nicht loskam aus der Firma. Zum Glück hatte Else angeboten, mit Jonathan schon zu Abend zu essen, so würde Nina ihren Kleinen zuhause gleich ins Bett bringen können.
Das schlechte Gewissen, nicht genug für ihr Kind da zu sein und ihm auch heute kein Abendbrot mit der Familie bieten zu können, nagte an ihren Nerven. Sie blickte den leeren Flur entlang, als sie das Licht hinter sich auslöschte. Es war stets ein wenig gruselig, das alte Gebäude im Dunkeln allein zu verlassen. An der Haustür drehte sie sich nach der Produktionshalle um und vergewisserte sich, dass die Spätschicht noch arbeitete. Kurz überlegte sie, wann war die Pause? Aber nein, der Blick auf die Uhr bestätigte, die Pause war längst zu Ende. Die Belegschaft der zweiten Schicht musste hier sein. Jetzt sah sie durch die Glastür ein Stück Wäsche aus der Faltmaschine der Mangel gleiten, ehe es sich für die erste Längsfaltung wieder erhob und wie von Geisterhand zurück in der Maschine verschwand. Ein kurzes Lächeln flog über ihr Gesicht, sie war nicht allein.
Nina wendete sich zur Eingangstür. Frau Brettschneider, die Sekretärin, hatte abgeschlossen, als sie um 17 Uhr gegangen war. So lautete die stille Vereinbarung: wer nach fünf ging, schloss den Haupteingang ab, um sicher zu gehen, dass abends niemand unbefugt durchs Gebäude schlich. Wer immer danach noch auf dem Verwaltungsflur arbeitete, fühlte sich dadurch sicher. Man konnte schließlich nie wissen. Das Gebäude aus dem Jahr 1894 lag sehr einsam am Ende einer langen Zufahrtsstraße. Hierher verirrte sich nur, wer es wollte, oder... Nein! Nur wer es wollte. Nina schloss die Tür von außen ab und schlug den Weg zum Parkplatz ein.
Jedes Mal wenn sie das Betriebsgelände zu später Stunde allein betrat, dachte sie, dass die zwei alten Straßenlaternen zwischen den hohen knorrigen Bäumen, die die Betriebszufahrt säumten, einfach zu finster waren, um das weite Gelände angemessen auszuleuchten. Sie wusste, dass sie sich keine moderne Flutlichtbeleuchtung für den Mitarbeiterparkplatz leisten konnten. "Stell dich nicht so an", befahl sie sich und dachte an die mutigen Kolleginnen der Spätschicht, die erst nach 22 Uhr die Firma verließen. Sie straffte sich und ging schnellen Schrittes in Richtung ihres Autos.
Die Bäume warfen lange Schatten über den brüchigen Asphalt. Vor ihr lag das Geländer des Abkühlbeckens. Ein Stück dahinter rauschte der kleine Fluss Göltzsch. Tagsüber war das Firmengelände ein idyllisches Fleckchen Erde. Die alten Gebäude thronten stolz im Abglanz besserer Zeiten in der Aue des Baches. Widerwillig passten sie sich mit ihrem über die Jahrzehnte erworbenen morbiden Charme in die natürliche Umgebung ein. Hinter dem Gebäude erhob sich ein felsiger Hang aus dem Auwald, an dessen Fuß sie einen Pausenplatz angelegt hatten. Es war im Sommer der ideale Ort für eine Abkühlung. Jetzt allerdings fröstelte es Nina. Der Wind rauschte im Geäst der Bäume und das Wasser plätscherte unheilvoll. Ein paar schnelle Schritte und sie erreichte das Auto. Sie stellte ihre Tasche, wie gewohnt, auf den Rücksitz, öffnete die Fahrertür und schlüpfte hinein. Noch ehe sie den Motor anließ, verriegelte sie die Türen. Wie albern, dachte sie über sich selbst. In diesem beschaulichen Städtchen am Rande von Deutschland passierte nie etwas. Doch von Hause aus war Nina ein Großstadtkind, dunkle Orte waren ihr unheimlich.
Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss und das Radio erklang. Während sie den Rückwärtsgang einlegte, blickte sie auf das graugestrichene Geländer des Abkühlbeckens. Dahinter dampfte das Abwasser der Wäscherei in der kühlen Abendluft. Sie erschauerte, als im weißen Licht ihrer Scheinwerfer etwas Schwarzes im Dampf aufzuragen schien. Sieht aus wie ein Schuh, dachte sie und musste grinsen, denn sicher war es nur der übliche Unrat, der gelegentlich in das offene Becken wehte. Schmunzelnd über ihre düstere Fantasie fuhr sie vom Hof der letzten Großwäscherei des Vogtlandes.
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